Cambridge - Erfrischend traditionell

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von Oliver, der sein Auslandstrimester an der University of Cambridge in England verbringt

Ein Gong ertönt. In der großen holzvertäfelten Halle, von deren Wänden die Ölgemälde alter Master hinabblicken, verstummen die letzten Gespräche. Die Studenten – alle tragen Umhänge mit samtenen Kragen – erheben sich von ihren Plätzen. Nach einer kurzen Pause treten durch eine hölzerne Seitentüre die Fellows ein und versammeln sich am High Table. Es ist fast vollkommen still, nur der Widerhall der Schritte der Eintretenden ist zu hören. Nachdem die Türe hinter dem letzten Fellow krachend ins Schloss fällt, spricht ein Mitglied des Colleges nach einer kurzen Verbeugung einen lateinischen Segen.

„Benedic, Domine, nobis et donis tuis quae ex largitate tua sumus sumpturi; et concede ut, ab iis salubriter enutriti, tibi debitum obsequium praestare valeamus, per Jesum Christum dominum nostrum; mensae caelestis nos participes facias, Rex aeternae gloriae. Amen.“

Der Gong ertönt erneut und die Anwesenden nehmen ihre Plätze an vier festlich gedeckten Tafeln ein. Der erste Gang wird serviert. Die allabendliche Formal Hall, das Abendessen der Studenten am Gonville and Caius College in Cambridge, beginnt.

Ist es nicht verwunderlich, dass es kaum jemanden gibt, der noch nicht von der kleinen Stadt am River Cam gehört hat? Der Grund dafür ist zweifelsohne die Universität, die hier allgegenwärtig ist. Ihre Colleges, wie an einer Perlenschnur aufgereiht, nehmen einen erheblichen Teil der Innenstadt in Anspruch. Von der Straße kaum einsehbar, eröffnet sich dem Besucher hinter uralten Mauern eine eigene Welt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Mit seinen mittelalterlichen Innenhöfen, traditionsreichen Bibliotheken, prächtigen Kapellen und reich verzierten Innenräumen würde jeder Winkel dieser Universität eine würdige Filmkulisse abgeben. Doch Cambridge hat weit mehr als nur architektonische Schätze zu bieten.

Auf einem meiner Streifzüge durch die Universität sah ich in der fast 500 Jahre alten Wren Library am Trinity College einen Mann, wohl ein Professor, der umringt von uralten Büchern auf dem Marmorboden saß, vorsichtig in einem der Manuskripte blätterte und seine Erkenntnisse auf einem iPad festhielt. Und genau dieses Bild verkörperte für mich den „Spagat“, den diese Universität so unglaublich gut beherrscht. Cambridge ist eben kein mittelalterliches Freilichtmuseum, sondern eine moderne Universität und eine nicht versiegende Quelle von neuen Ideen und Erkenntnissen. Es ist ein Ort, an dem die Bewahrung von Traditionen und moderne Spitzenforschung keine Gegensätze darstellen, sondern vielmehr Hand in Hand gehen. Es wundert mich nach ein paar Wochen nicht mehr, dass gerade hier Isaac Newton die Gravitationskraft beschrieb, Crick und Watson die DNA entdeckten und Stephen Hawking heute einen Lehrstuhl innehat.

Ein wunderbares Beispiel für eine Tradition, die seit Jahrhunderten bewahrt wird, ist das System der Supervisions, die eine Ergänzung zu den Vorlesungen darstellen. In einem mittelalterlichen Kaminzimmer in schweren Ledersesseln sitzend, vertieft man mit einem Fellow den Inhalt der Vorlesung, stellt Fragen und löst Fälle.

Doch Cambridge bietet auch einen Ausgleich für das konstant hohe Arbeitspensum – das vielfältige Freizeit- und Kulturangebot ist schier unüberschaubar. Neben den zahlreichen Boat Clubs, Chören und Debattierclubs gibt es auch eher kuriose Societies wie die „Whiskey Appreciation Society“, die „Harry Potter Alliance“ oder gar eine „Taylor Swift Appreciation Society“. Ich habe mich für Rudern entschieden, auch wenn das regelmäßig bedeutet, morgens um fünf Uhr aufstehen zu müssen.

Genau so vielseitig wie die Societies sind auch die Studenten hier. Cambridge ist die akademische Heimat von rund 20.000 Studenten aus aller Welt. Sie alle eint Talent, Wissenshunger und der Ehrgeiz, sich hier akademisch zu bewähren. Es sind vor allem die Kommilitonen, die diese Universität so besonders machen. Wir werden wohl noch lange von dem erzählen, was wir hier erlebt haben. Wenn wir in einigen Wochen die Heimreise antreten (müssen), werden wir auf eine spannende Zeit zurückblicken können und um viele unvergessliche Erfahrungen reicher sein.

Doch an die Heimreise möchte ich eigentlich noch nicht denken.