Land der Gegensätze

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von Leonie, die ihr Auslandstrimester an der National Law School of India University verbringt

Das erste, was mir an Indien auffällt, als ich im Taxi vom Flughafen sitze ist der Lärm. Auf den Straßen herrscht ein anscheinend kaum bezähmbares Chaos, dass die vielen, überdimensionierten „Follow Traffic Rules“ Schilder wie einen schlechten Scherz wirken lässt. Vor allem, da die meisten Fahrer dort die Regeln wohl nie gelernt haben. So folgen Indiens Straßen eben ihren eigenen Gesetzen. Eines davon lautet: Je mehr ich hupe, desto sicherer werde ich bemerkt. Waghalsigkeit und Kreativität bei Überholmanövern gehören ebenfalls dazu. Die daraus resultierende Kakophonie ist ohrenbetäubend, und die mangelnde Ordnung bedeutet endlose Verkehrsstaus. Vor allem hier in Bangalore der südindischen Stadt im Bundesstaat Karnataka, in der ich mein Auslandstrimester verbringe. Hier ist es nichts ungewöhnliches für knapp zehn Kilometer in die Innenstadt auch einmal gute zwei Stunden zu brauchen.
Dabei war Bangalore vor 60 Jahren kaum mehr als ein Dorf, in dem es noch ein Ereignis war, wenn sich einmal ein Auto die Straße herunter verirrte. Vor 25 Jahren war Bangalore dann ein Städtchen mit 200 000 Einwohnern. Heute ist Bangalore eine expandierende Megacity, die drittgrößte Stadt Indiens und das Zuhause von über 11 Millionen Menschen sowie einer boomenden IT Industrie.
Straße in Bangalore, Karnataka
Meine Austauschuni für drei Monate ist mit 400 Studenten sogar noch kleiner als unsere. Und mit 40 000 Bewerbern um die 70 verfügbaren Plätze pro Jahr ist das Aufnahmeverfahren noch einmal deutlich umkämpfter. Das spiegeln dann auch die aus ganz Indien stammenden Studenten wieder. Was dort an Fleiß und Engagement jeden Tag abgeliefert wird, ist kaum mit unserem Studentenalltag zu vergleichen. Das gesamte Campusleben wird von den Studenten mit enormem Aufwand durch Komitees selbst organisiert und gestaltet.
Und doch ist erstaunlich, in wie vielem die Studenten hier doch ihren Counterparts in Europa gleichen. Abends wird munter zusammengesessen und diskutiert, gemeckert über Professoren und Klausuren und natürlich die Qualität des Mensa Essens in Zweifel gezogen. Noch stärker als bei uns findet hier das Leben auf dem Campus statt. Die Studenten wohnen und lernen hier, die kleinen und großen Dramen spielen sich vor aller Augen ab, man treibt Sport und feiert heimliche Partys auf dem Fußballfeld, da Alkohol auf dem Campus offiziell verboten ist.
In vielen Aspekten unterscheidet sich ihr Studentenleben also überraschend wenig von unserem, und doch gibt es natürlich genug Momente, in denen man deutlich merkt wie weit man von Deutschland und seinem gewohnten Umfeld entfernt ist.
So ist der der Betreff „Snake spotted“ der dort mehrmals die Woche in unserem Emailfach auftaucht am Anfang gewöhnungsbedürftig, genau wie die strikte Trennung der Männer- und Frauenquartiere. Damit Frauen die Location der Fußballfeld-Parties (der Uniadministration nur bekannt als „bonfires“) überhaupt besuchen können, bedarf es der offiziellen Erlaubnis des Direktors der Hochschule.

“No men allowed beyond this point” – Schild vor den Frauen Hostels, der Guard abgestellt um diese Regel durchzusetzen, ist nicht mit im Bild

Diskussionen mit den Studierenden sind offen und unverblümt. Ob es um Politik oder die indische Gesellschaft geht, es gibt nahezu keine Tabuthemen. Dafür kennen sich die Studierenden, die fünf Jahre gemeinsam auf engstem Raum leben und die Höhen und Tiefen des Jurastudiums unweigerlich gemeinsam durchstehen, zu gut. Mit der Zeit werden auch wir mutiger, fragen nach dem Konzept der arrangierten Ehe, der Stellung der Frau, dem Umgang mit Homosexuellen, der allgegenwärtigen Korruption und dem immernoch vorhandenen und gelebten Kastensystem. Dabei wird schnell der gewaltige Unterschied zwischen den Generationen deutlich. Denn während die meisten unserer Kommilitonen selbst über ihr Leben und ihre Partnerwahl bestimmen wollen und ein Weltbild geprägt von Offenheit und Toleranz haben, berichten viele, dass von ihrem Elternhaus noch ganz andere Ansichten und Erwartungen ausgehen. Als Konsequenz werden Liebesbeziehungen vor den Eltern verheimlicht. Und die Tatsache, dass ihre doch so wohlerzogenen und intelligenten Kinder rauchen und trinken und tatsächlich auch schon mal einen Kater hatten, bleibt für die meisten Eltern bis heute unvorstellbar. Viele der Unterschiede, die die indische Gesellschaft entlang Alters- und Bildungsgrenzen spalten, beginnen wir aber auch erst auf unseren Reisen so richtig zu verstehen. Denn so wenig man es sich in den ersten Tagen vorstellen kann, so sehr ist doch der Campus eine kleine Oase an Ruhe und Ordnung inmitten Indiens.
Markt in Mysore, Karnataka
Mein erster Ausflug in die Innenstadt Bangalores’ etwa endete nach zwei Stunden in einem Starbucks. Kühl, sauber, vertraut und, dank annähernd europäischer Preise, auch leer und ruhig. Ich brauchte etwas Abstand. Draußen tobte das Chaos. Keine Bürgersteige, keine Verkehrsregeln, überall Kühe und Hühner auf der Straße und alle zwei Meter Verkäufer die partout nicht verstehen wollten, dass auch Ausländer nun mal nicht alles kaufen wollen. An jeder Ecke finden sich kleine Schreine oder Tempel an denen Blumen und andere Opfergaben abgelegt werden. Man merke an, Bangalore ist als westlichste Stadt Indiens bekannt.

Das indische Standards, was medizinische Versorgung und Hygiene betrifft, in keinster Weise mit Deutschen zu vergleichen sind, mussten wir in der Wüste Rajasthans bei einem notfallmäßigen Krankenhausaufenthalt auf die harte Tour lernen.
In der Thar Wüste, Rajasthan kurz vor unserer unfreiwilligen Begegnung mit zwei indischen Krankenhäusern
Das Inder jedoch eine unglaubliche Gastfreundlichkeit besitzen, durften wir direkt danach erfahren, als wir völlig erschöpft in die Obhut der Eltern eines Kommilitonen gerieten, die uns, ohne uns je vorher getroffen zu haben, unter ihre Fittiche nahmen. Ihre Begründung war einfach: „The friends of our son are not only most welcome to our house we also treat them like our own children“. Eine Woche lang sorgten sie daher für unsere Unterkunft, schauten Tag für Tag vorbei, brachten kleine Geschenke oder nahmen uns zum Essen mit. Und so sollte die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft von völlig Fremden auf unseren Reisen auch eine der schönsten Erfahrungen dieser Monate bleiben.
Blick vom Tiger Fort über Jaipur, Rajasthan bei Sonnenuntergang
Der allgegenwärtige Slogan der indischen Tourismusindustrie lautet „Incredible India“. Geradezu genial gewählt, passt er doch sowohl auf die Höhen als auch die Tiefen, die wohl jedem Reisenden hier unweigerlich einmal widerfahren.
Pushkar, Rajasthan eine Stadt mit 22.000 Einwohnern, 54 Tempeln und sicher an die 100. 000 Kühen
Die extremen Gegensätze zwischen Armut und überbordendem Reichtum, zwischen hervorragend ausgebildeter Elite und ungebildetem Straßenvolk und natürlich zwischen Mann und Frau sind für uns Europäer nur schwer zu begreifen und wohl noch schwerer zu akzeptieren. Gerade in Bangalore wo glitzernde Malls und schicke Bars sich abwechseln mit Straßenverkäufern und Wellblechhütten. So kann Indien frustrieren. Und einem in gewissen Augenblicken auch Angst einjagen. Aber es hat eine merkwürdige Gabe dafür, mit völlig unerwarteten Ereignissen und Emotionen aufzuwarten und einen so für schlechte Tage und Erlebnisse schnell wieder zu entschädigen.
Blick vom Mehrangarh Fort über die blaue Stadt Jodhpur, Rajasthan
Trotzdem brauchten wir zweifellos ein bisschen um anzukommen. Aber so überwältigend der Anfang auch war, so sehr hat sich der Aufenthalt gelohnt. Hat man einmal akzeptiert, dass Dinge zwar ganz sicher nicht so laufen werden, wie man das erwartet, merkt man schnell, dass es am Ende immer doch irgendwie funktioniert. Mein erster Trip alleine mit dem Zug in die Königsstadt Mysore war noch ein ziemlicher Nervenkitzel, die Zugfahrt alles andere als entspannt. Ich erinnere mich noch, wie schockiert ich war, dass das für mich deutliche Zeichen von Augen geschlossen und Musik hören bei Indern völlig wirkungslos ist. Ich wurde einfach gerüttelt, bis ich mich schließlich meinen Sitznachbarn zuwandte und die Fragen nach Name und Herkunftsland, die man eigentlich überall gestellt bekommt, beantwortete. Dass ich es vorziehen würde, mich nicht zu unterhalten, war eben einfach undenkbar.

Schnell hatte es sogar einen gewissen Reiz, dass in Indien zwar viele, Regeln existieren, diese aber so wenig durchgesetzt werden, dass man dadurch auch viel irgendwie so hinbiegen kann, wie es einem gefällt. Das Land bietet, gerade auf Reisen, noch mehr als nur einen Hauch an Abenteuer.
Safari in einem der Nationalparks in Madhya Pradesh
Und damit wären wir auch bei einem der schönsten Dinge an einem Auslandstrimester in Indien: Das Reisen. Was man auch sehen will, die Wahrscheinlichkeit, dass Indien es zu bieten hat ist hoch. Da sind die traumhaften Küsten und Sandstrände in Kerala und Goa im Süden des Landes, und die kühleren, teebewachsenen Hillstations, die Regenwälder und Nationalparks.
Blick über die Teeplantagen in Munnar, Kerala
Und da ist Hampi, eine uralte Tempelstadt, die mit ihren Ruinen, inmitten der von orange-lilafarbenen Geröllbergen und knallgrünen Reisfelder geprägten Landschaft, einen nahezu unwirklichen Eindruck abgibt. Weiter nördlich liegt der Wüstenstaat Rajasthan mit seinen prächtigen, bunten Palästen und beeindruckenden Festungen, begrenzt schließlich von den Ausläufern des Himalaya.
Elephant Sanctuary in Thekkady, Kerala
Entsprechend der vielen Orte die ich in den letzten Monaten gesehen habe und der noch viel längeren Liste an Orten, die ich unbedingt noch sehen will, reicht mein Platz hier bei weitem nicht aus, um Indien als Land zu beschreiben. Nur, dass es die Reise so sehr wert ist, möchte ich noch festhalten. Und natürlich will ich wiederkommen. So bald wie möglich.
Strand in der Nähe von Mararikulam, Kerala