Streifzug durch Istanbuls Sorgenkind

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von Paul, der sein Auslandstrimester an der Bilgi Üniversitesi in Istanbul verbringt

Istanbul ey, ist einfach überwältigend. Mir ist hier keine Sekunde langweilig, überall läuft man offene Türen ein, lernt neue Leute kennen und entdeckt Unbekanntes. Nach vier Wochen möchte ich mir kein Urteil über diese Stadt erlauben. Trotzdem will ich beschreiben, was sie für mich bis jetzt ist: Stadt der versteckten, aber vor allem vergehenden Schönheit.

Ein Beispiel: Die ersten Tage verbringt man als Erasmus-Student vor allem an der Istiklal Caddesi. Sie ist sozusagen die Mönckebergstraße von Istanbul (der Vergleich hinkt, vor allem kommt die Mönckebergstraße mir von hier aus so belebt vor wie die Hauptstraße von Buxtehude). Wenn man vom Jura-Campus der Bilgi Universität dorthin läuft, muss man durch den Stadtteil Tarlabaşı. Vor allem in meinen ersten Tagen fand ich in Istanbul alles toll, das nicht westlich-touristisch schien, sondern eine andere Welt für mich ist. So auch Tarlabaşı. Wunderschön ist es dort nicht, aber vollkommen anders als jede europäische Stadt, die ich vorher gesehen habe. Wäscheleinen spannen sich zwischen den Häuserfronten, Gebäude haben wackelige Zusatzgeschosse, Männer sitzen auf der Straße und trinken scheinbar den ganzen Tag Tee. Dann findet man versteckt zwischen engen Gassen, lärmenden Kindern und Gemüsehändlern z.B. diese Kirche.

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Erst später habe ich erfahren, dass Tarlabaşı im Moment das Sorgenkind Istanbuls ist. Nicht nur Armut, sondern auch Kriminalität und Drogentote haben das Viertel in Verruf kommen lassen. Trotz der Nähe zur Istiklal wird allen Touristen und Studenten abgeraten dort ein Zimmer zu nehmen. Es gibt keine Krankenhäuser oder Spielplätze, die Häuser sind heruntergekommen, Prostituierte stehen nachts reihenweise an den Straßen. Ab da veränderte sich meine Wahrnehmung des Viertels. Bei meinem nächsten Spaziergang wurde ich von einem Mann angesprochen: "Mach keine Fotos. Geh einfach weiter. Es ist gefährlich hier." Gleich danach wurde ich von einem etwa 14-Jährigen angesprochen, ob ich Ecstasy wolle.

Dass ein Stadtteil in so prominenter Lage verkommt, will die Regierung ändern: Tarlabaşı Yenileniyor heißt das Erneuerungsprojekt der Calik Holding, die einem Schwiegersohn vom Präsidenten gehört. Tarlabaşı soll fast vollkommen abgerissen werden und dafür Neubauten entstehen, mit Hotels, Restaurants und so weiter. Die Arbeiten haben bereits begonnen.

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Sehr sehenswert dazu folgender Ausschnitt aus einem Werbe-Video der Stadt: http://www.youtube.com/watch?v=dZwzVzNI_Mg#t=200

Noch hat Tarlabaşı eine durchmischte Bevölkerung. Roma, Arbeiter aus Anatolien, Asylsuchende, Transvestiten, alle sind hier wegen der günstigen Mieten untergekommen. Man muss kein Genie sein, um zu erraten, dass die neuen Gebäude nicht für sie gebaut werden. Sie werden verdrängt an die Außengrenzen der Stadt. Die jahrhundertealte Architektur wird verschwinden und durch gesichtslose, langweilige Häuser ersetzt. Danach wird Tarlabaşı kein Problemviertel mehr sein. Aber wenn es der Regierung wirklich darum ging das zu ändern, warum wurde der Stadtteil dann vorher Jahre lang sich selbst überlassen? Warum wundert man sich über Häuser, die in schlechtem Zustand sind, nachdem man sie nicht instand hält.

Es ist ein natürlicher Prozess, dass Städte im Wandel sind. Aber sie verlieren ihre Seele, wenn die Armen an die Ränder vertrieben werden, damit die Reichen in blitzblanken Häuserfassaden ihren Platz einnehmen können. Gentrifizierung gibt es also auch in Istanbul. Nur geht sie etwas schneller als bei uns und lässt nichts zurück. Mein Tipp deshalb: Schnell nach Istanbul reisen, mal sehen, wie viel davon in ein paar Jahren noch übrig ist.

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