The City that never sleeps

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von Frederike, die ihr Auslandstrimester an der New York University verbringt

Ich hüpfte aus dem Zug, schob mich mit den Menschenmengen das Gleis entlang und freute mich schon auf die goldene, leuchtende Halle der Grand Central Station. Aber ich hatte einen falschen Ausgang erwischt und stand nun plötzlich draußen im Schatten der riesigen, dunklen Hochhäuser. Ich blickte nach oben. Die Sonne war verdeckt von den hohen, spiegelglatten Gebäuden. Obwohl es knapp über 40° waren und mir der Schweiß die Beine hinunterlief, fröstelte ich kurz. Im gleichen Moment wurde ich aber schon von vorbeieilenden Menschen angerempelt und zur Seite geschoben. Ich stand den ganzen beschäftigten Menschen im Weg. Hastig suchte ich Straßenschilder, um den Weg zur Subway finden zu können. Ich erinnerte mich noch aus dem letzten Urlaub, dass man sich einfach an den nummerierten Straßen und Avenues orientieren konnte. Doch das nächste Straßenschild hatte keine Nummer wie erwartet, sondern den Namen „Madison Avenue“. Plötzlich war ich mir doch nicht mehr so sicher, ob ich mit der Metropole New York City, die mich so einschüchterte, die richtige Wahl getroffen hatte.
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Etwas mehr als zwei Monate später und um eine Menge Erfahrungen reicher bin ich mir sicher, dass es für mich kein besseres Ziel gegeben hätte. Jeden Tag aufs Neue habe ich willkommen gefühlt und komme mir auch jetzt noch vor wie ein kleines Kind, das staunend durch die große Welt läuft und täglich spannende, neue Dinge entdeckt. Als mich das erste Mal nachts in der Subway ein Fremder angesprochen und in ein Gespräch verwickelt hat, habe ich meine Hand noch fest um mein Portemonnaie geklammert und meinem Law-School-Buddy ängstlich eine SMS geschrieben, ob das normal ist oder ob ich mir Sorgen machen muss („Haha ya there’s a bunch of crazies here“). Schon eine Woche später habe ich zusammen mit irgendeinem Typen in der Subway Pizza gegessen, die er mir angeboten hat, und liebe diese merkwürdigen U-Bahn-Gespräche immer mehr.
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Wie oft ich Sonnenuntergänge von Dachterrassen angeschaut habe, kann ich mittlerweile nicht mehr zählen, aber an einen Sonnenaufgang erinnere ich mich noch ganz genau. Ich habe mich von meinem Gastpapa überzeugen lassen, am NYC Century, einem 100-Meilen-Radrennen durch die City, teilzunehmen. Weil das Rennen schon so früh begonnen hat, dass die erste Bahn am Morgen zu spät gewesen wäre, habe ich kurzerhand die letzte am Tag vorher genommen. Dass Frank Sinatra absolut richtig liegt, wenn er singt, dass New York niemals schläft, kann ich jetzt bestätigen, denn die Zeit bis zum Rennstart um 5:30 habe ich noch mit einem kleines Nickerchen auf einer Parkbank verbracht und war dort keine Sekunde allein. Gelohnt hat sich das aber allemal – allein schon für den wunderschönen, rosa Sonnenaufgang auf der Brooklyn Bridge.
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Einmal habe ich sogar schon den Notruf rufen müssen, als ich beim Joggen an einem auf dem Dach liegenden Auto vorbeigekommen bin. Während ich mich zuerst noch gewundert habe, warum Leute ihr Auto auf dem Kopf abstellen, habe ich plötzlich gemerkt, dass noch Leute darin waren, die verzweifelt versucht haben, das Fenster zu öffnen, um das Auto zu verlassen. Glücklicherweise waren nach meinem Anruf in wenigen Sekunden genügend Polizisten vor Ort, die die zwar verletzten, aber noch lebendigen Insassen befreiten. Bis jetzt habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wie dieser Unfall abgelaufen sein könnte und würde auch immer noch nicht ganz glauben, was passiert ist, wenn ich nicht den Zettel der Polizei zuhause hätte.

Die meiste Zeit an meiner Uni verbringe ich momentan damit, entweder auf den Boden zu starren und zu beten, dass der Professor nicht mich auserkoren hat, den aktuellen Fall und die umfangreichen Begründungen vorzustellen („Today I’m gonna take the victims of last week again, I think I haven’t humiliated them enough, yet“) und danach seine vertrackten Fang-Fragen zu beantworten – oder sitze staunend über die Polizeibefugnisse in meiner Criminal Procedure Class und schüttle den Kopf über aus deutscher Sicht schlicht undenkbare Verbote in meiner Sexual Orientation and Gender Law Class. Zwar nimmt das Lesen der ganzen Texte eine Menge Zeit in Anspruch (und Geld, vor allem Geld – ich hätte nie gedacht, dass ich $700 allein für die Pflichtbücher würde ausgeben müssen), aber weil ich völlig frei in meiner Kurswahl war, macht es eine Menge Spaß, insbesondere, wenn man zum Lesen statt in der Library im Park sitzt.
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In meiner Zeit hier habe ich kalten Kaffee lieben gelernt; bin in einer 10-Stunden-Tour auf den zweithöchsten Berg im State NY geklettert; habe mich auf dem Schulbus-Parkplatz der Highschool wie im Film gefühlt; im Museum of Modern Art über die künstlerische Bedeutung von Sandhaufen gerätselt; habe mir im Park gegenüber meiner Uni von einem der vielen Schachspielern die Regeln beibringen lassen und danach ausschließlich verloren und habe einen mitreißenden Gospel-Gottesdienst in Harlem mitgefeiert.
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Ich bin auf dem Hudson zu Freiheitsstatue geschippert; habe gelernt, was Japaner statt Cheeeeeese auf Fotos sagen; war auf einer Salsaparty meiner brasilianischen Kommilitonen; habe Mini-Highschool-Freshmen-Footballer angefeuert und Mini-Cheerleadern zugeschaut; bin mit dem Family Van meiner Gastfamilie rumgecruist und habe den Fahrtwind in meinen Haaren gefühlt, als ich verbotenerweise zwischen den Subway-Waggons mitgefahren bin.
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Ich hab mich von Rehfamilien beim Cross Country Training beobachten lassen, mir im rummeligen Chinatown die Nase zugehalten bei den Fischgeschäften, die ihre Ware in der prallen Sonne ausgelegt haben; die Präsidentschaftsdebatten mit meiner Gastfamilie im Fernsehen verfolgt und hab mit meinen Freunden beim Lunch den Kindern beim Planschen im Brunnen des Washington Square gegenüber meiner Uni zugeguckt – und das waren noch nicht einmal alle meiner kleinen glücklichen Momente in den letzten Wochen.
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Die wichtigste Erkenntnis in den letzten Wochen war für mich, dass New Yorks wahre Schönheit nicht in seiner schier überwältigenden Größe und der Perfektion seiner Hochhäuser liegt, sondern in den kleinen Dingen.
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Die Postkartenmotive können nicht einfangen, wie oft Details dir ein Lächeln ins Gesicht zaubern, und wie liebenswürdig diese riesige Stadt ist. Die harten Kanten der imposanten Hochhäuser geben die Warmherzigkeit, Vielfältigkeit und Echtheit der New Yorker nicht wieder. Am ehesten sind es die kleinen Lichter, die man auf den Postkarten bei Nacht sieht – all die wunderbaren Menschen, die hier leben.
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