Eindrücke aus einer Studentenstadt
von Felix, der sein Auslandstrimester an der University of Oxford verbringt
Mir ist kalt. Die Sonne verbirgt sich noch hinter dem Horizont. Ich sitze in einem Boot. Ich frage mich, warum ich mir das eigentlich antue, warum ich die Tradition nicht Tradition sein lasse. Wie auch immer. Wir stoßen uns ab und beginnen zu rudern. Howard, unser Trainer, fährt auf dem Fahrrad am Ufer neben uns her und macht dabei sehr deutlich, wo der Fehler liegt. „Your shoulders are almost touching your ears – head up, shoulders down!“, brüllt es von der Seite zur mir. Als Zuschauer muss dies possierlich aussehen, im Boot ist das jedoch alles leichter gesagt als getan. Man wundert sich, wie kontraintuitiv die Ruderbewegung ist, ja wie wackelig ein Ruderboot sein kann, wenn alle versuchen, im Takt zu rudern und es dabei bei einem Versuch bleibt. Wenn es mit dem Takt aber klappt, ist ein besonderes Gefühl im Morgengrauen auf der Themse zu rudern.
Es fühlt sich für mich jeden Tag aufs Neue unwirklich an, hier zu sein. Oxford ist zwar mit etwas über 150.000 Einwohnern eine Großstadt, der Stadtkern ist aber überschaubar und lässt sich fußläufig gut erschließen. Die University of Oxford – wohlgemerkt nicht Oxford Brookes, einer Art Fachhochschule am Stadtrand – ist dabei im Stadtbild allgegenwärtig. Ihr gehören viele Gebäude und Studenten sind nahezu überall zu erblicken– man kann mit Recht von einer klassischen Studentenstadt sprechen. Ich habe erwartet, dass mich die Enge stören würde. Dies kann ich nicht bestätigen. Erstaunlich ist vielmehr wie angenehm – man möchte sagen gemütlich – die Stadt ist. Hinzu kommt das ausgesprochen milde Wetter. Das Stichwort ist maritimes Klima.
Die Struktur der University of Oxford ist indes für Außenstehende ungewohnt. Die Universität bildet lediglich den Organisationsrahmen des Studiums und übernimmt die Repräsentation nach außen. Wichtiger sind die 30 eigenständigen Colleges, aus denen sich die Universität konstituiert. Dieses System finde noch immer eigentümlich: Jedes Mitglied der Universität ist einem College zugeordnet – einem geschlossenen Gebäudekomplex, der zunächst als Wohnort für jüngere Studenten dient. Darüber hinaus beinhaltet er aber auch erhebliche Infrastruktur für jedes Mitglied des Colleges. Dies umfasst u. a. eine eigene dinner hall, Bar, Ruderclub, Bibliothek und sogar Kapelle. Die Colleges sind zumeist ganz pittoresk. Die Identifikation der Studenten mit ihrem College ist herausragend, ja die Traditionen in Oxford sind insgesamt bemerkenswert. Hervorzuheben sind die formal dinner, zu denen man im Umhang (dem gown) erscheinen muss. Wir sind in Brasenose, einem mittelgroßen College, in dem man sich schon nach kurzer Zeit schon sehr geborgen fühlt.
Die Vorlesungen finden zum Großteil in der juristischen Fakultät statt. Das Gebäude ist enttäuschend, erinnert es mich doch verdächtig an den Brutalismus vertrauter Universitäten des Ruhrgebiets. Die Vorlesung in Handelsrecht – eine eigentümliche Mischung aus besonderem Schuldrecht und Mobiliarsachenrecht – findet sogar einem Kellerraum statt, den man sich gut als Teil eines Bunkers vorstellen könnte. Ich versuche deshalb, tunlichst nicht an der Fakultät zu sein. Umso angenehmer ist, dass das Studium weniger auf Kontaktstunden, sondern auf Selbststudium ausgerichtet ist. Das Stichwort ist reading list. Diese kommt mir zwar entgegen der Aussage des Dozenten immer noch sehr lang vor, ganz liest sie aber wohl auch niemand. Dies schließt mich ein, sodass ich in den Seminaren und Tutorials – mit erstaunlichem Erfolg – hoffe, keine kritische Frage gestellt zu bekommen.
Blickt man von außen auf die Universität mit ihren Absolventen und Wissenschaftlern entwickelt man gehörigen Respekt. Oxford lehrt Demut. Aus der Innenperspektive relativiert sich dies – auch in Oxford kann niemand über Wasser gehen. Dennoch muss ich gestehen, wie mich hier jeden Tag Menschen in ihrer Persönlichkeit beeindruckt haben. Ich denke, im Leben haben diejenigen Begegnungen den größten Widerhall, bei denen der Gegenüber überhaupt nicht realisiert, dass er diesen Widerhall gerade erzeugt. Hiervon hatte ich in der letzten Zeit eine ganze Reihe. Insbesondere hat mich die Perspektive der vielen Studenten beeindruckt, die aus den entferntesten Ecken der Welt nach Oxford kommen, um mir bisher gänzlich unbekannte Themen zu studieren (etwa biodiversity conservation oder water science).
Die Studenten sind dabei sehr aufgeschlossen und freundlich, Selbstbeweihräucherung nehme ich nicht wahr. Insgesamt scheint mir jedoch der Lebensstil der Studenten – insbesondere der undergraduates – krasser zu sein. So ist die Arbeitsbelastung der normalen Studenten durch die Kürze des Terms, die langen Leselisten und die fortlaufend einzureichenden Essays enorm. Gleichzeitig ist die Sozialisation im College sehr ausgeprägt. So etwas Schieres wie ein Crewdate habe ich jedenfalls noch nicht erlebt.
Als Visiting Student bleibt viel Raum, um sich mit Themen zu beschäftigen, die einen wirklich interessieren. Ich lese recht viel, wofür mir sonst leider die Zeit fehlt. Zudem ist es schön, die englische Landschaft zu genießen, im Morgengrauen zu Rudern oder dem Chor in der Kapelle zu lauschen. Insbesondere ist es angenehm, aus einer anderen Perspektive reflektieren zu können.
Zwei Punkte zum Land seien hervorgehoben: Erstens ist die Bargeldlosigkeit auffällig. Bestes Beispiel: Provisorisch aufbaute Collegebar, kein Tonic für den Gin – Kartenzahlung funktionierte perfekt. Dies kommt mir entgegen, da ich chronisch zu wenig Bargeld bei mir habe, führt aber auch allerdings auch zu einem ungewohnt gläsernen Gefühl.
Zweitens irritiert die erhebliche Obdachlosigkeit. Es ist eklatant, dass deutlich mehr Menschen auf der Straße leben. Man kann eigentlich an keiner Straße länger entlanglaufen, ohne dass man einem Obdachlosen begegnet. Es wohnen auch einige in Hausbooten auf der Themse, weil sie sich keine andere Bleibe leisten können. Das stimmt nachdenklich.
Wir wollen es dabei belassen. Ob Oxford der „beste“ Auslandsaufenthalt ist – ich weiß es nicht. Hierfür fehlt mir der Vergleichsmoment. Es wird in diesen Zeilen aber deutlich, wie gerne ich hier bin. Dafür bin ich dankbar. Ich würde gerne wiederkommen.